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Medizinische Sammlung

Ein Keuschheitsgürtel? Wirklich?

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Abb. 1: Keuschheitsgürtel, Gesamtansicht, Inventarnummer 14229.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Beschreibung

Der Gürtel besteht aus einer in feines Wildleder eingenähten Gliederkette mit Messingplatten an den Enden. Die rechte ist kürzer und trägt eine vorstehende Öse, die linke ist länger und weist zwei längliche Öffnungen nebeneinander auf, durch welche die Öse passt. Der Querriemen besteht ebenfalls aus einer in Leder gehüllten Gliederkette. Er ist hinten am Gürtel befestigt und läuft zwischen den Beinen nach vorne, wo er sich gabelt. Er verbreitert sich insbesondere vor Anus und Vagina, wo Messingplatten mit gezackten Öffnungen eingesetzt sind (Vgl. Abb. 2). Vorne endet der linke Arm in einer um den Gürtel laufenden Messingschlaufe, der rechte in einem flachen, rechteckigen Ring, der ebenfalls über die Öse passt. Ein durch die Öse führendes Vorhängeschloss sichert die darübergelegten Gurtenden. Der Schlüssel fehlt.

Provenienz

Wieder einmal ist eine Herkunft aus der ehemaligen Sammlung der chirurgischen Klinik zu vermuten. Zumindest wird in deren Katalog von 1882 unter der Nummer V.36 ein «weiblicher Keuschheitsgürtel» aufgelistet und das vorliegende Stück ist der einzige plausible Kandidat in unserer Sammlung. In der ehemaligen Dauerausstellung wurde dieser Gürtel von 1990 bis 2013 allerdings als «weibliche Onaniebandage» gezeigt.

Onaniebandage - für Frauen?!?

Im 18. Jh. kam die Idee auf, Selbstbefriedigung sei für Knaben und Männer nicht nur eine Sünde, sondern auch aus medizinischer Sicht schädlich. Besonders im 19. Jh. wurden Kleidungsstücke und mechanische Vorrichtungen entworfen, mit denen Erziehungsberechtigte ihre Schutzbefohlenen von solch schä(n)dlichem Tun abhalten konnten. Welche psychologischen und physiologischen Theorien Anlass dazu gaben, ähnliche Accessoires auch für Frauen anzubieten, würde hier zu weit führen, aber es gab sie tatsächlich.1 Soweit aus den zugehörigen Abbildungen zu ersehen ist, wurde bei diesen der Schambereich flächig mit einem Lochblech oder einem steifen Gitterwerk bedeckt, um einer erotischen Stimulation vorzubeugen.

Unser Gürtel ist aber anders konstruiert. Vor Vagina und Anus wurden separate Messingbleche eingesetzt, deren Mittelpartien zackenförmig ausgeschnitten sind (Vgl. Abb. 2). Die Ausschnitte sind 67 x 15 mm bzw. 25 x 25 mm gross. Das erschwert das Befingern zwecks Lustgewinns, ohne es zwingend zu verhindern. Die Zacken sind spitz zugeschnitten und hätten einem erigierten Glied beim Einführen Schmerzen und oberflächliche Verletzungen zugefügt. Dieses Stück metallverstärkter Intimwäsche sollte also nicht die Selbstbefriedigung der Frau verhindern, sondern unerwünschten Geschlechtsverkehr mit Männern. Die korrekte Bezeichnung ist demnach – wie im Katalog von 1882 – «Keuschheitsgürtel».


1: Beispiele:
- Katalog Heinecke 1882, S. 136-137, Nr. 1868b.
- H. Windler: Haupt-Katalog 50. Berlin: Eigenverlag, 1912, S. 884, Nr. 27079b und g.
- Sanitätsgeschäft M. Schaerer, A.-G.: Illustrierter Katalog über technische Hilfsmittel und Einrichtungen für die gesamte Medizin und Chirurgie. Bern u.a.: Eigenverlag, ca. 1904, S. 827, Nr. 34160.
- J. Odelga: Katalog über technische Hilfsmittel für Chirurgie, Medizin und Krankenpflege. Wien: Eigenverlag, 1906, S. 243, Nr. 4988.
- Katalog Rainal Frères 1905, S. 416, Fig. 18.

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Abb. 2: Keuschheitsgürtel, Detailansicht, Inventarnummer 14229.

© Institut für Evolutionäre Medizin

«Mythos» Keuschheitsgürtel

Über Keuschheitsgürtel haben die Leute schon immer mehr geschrieben, als sie wussten. Wenig Fakten, aber Theorien und Spekulationen à discrétion. Die bekannten schriftlichen und antiquarischen Quellen hat z.B. schon Dingwall 1931 zusammengestellt. Wirklich vermehrt haben sich seither nur deren Interpretationen und besonders die Anzahl Personen, die sich berufen fühlen, ihre Meinung dazu bekannt zu geben. Offenbar gehört es zur Bucket List von Bloggern, einmal den Keuschheitsgürtel als «Mythos» oder «historische Fiktion» enttarnen zu müssen.

Eine kritische Sichtung der Quellen ergibt, dass der «mittelalterliche Keuschheitsgürtel» wahrscheinlich ein Phantasieprodukt der Renaissance war. Aber als die Vorstellung eines solchen Geräts einmal in der Welt war, gewann sie in Erzählung und Literatur ein Eigenleben, das bis heute anhält. Heute sind Keuschheitsgürtel erotische Accessoires und werden in zahlreichen Ausführungen und für alle Geschlechter angeboten. Es wäre naiv anzunehmen, diese Art der Verwendung würde nicht bereits Generationen, vielleicht sogar Jahrhunderte zurückreichen. Zuverlässige Nachweise dafür sind aber sehr selten.

Im Sala d’Armi im Dogenpalast in Venedig wird seit langer Zeit ein Gürtel ausgestellt, der vom Aufbau her unserem Stück recht nahe kommt, sobald man sich die Polsterung hinzudenkt. Er ist aus feinen, flachen Gliederketten gearbeitet, mit zwei separaten, mit einem gezackten Durchlass versehenen Platten vor Vagina und Anus. Der Gürtel und seine Erfindung werden traditionell dem für seine Brutalität verrufenen Francesco Novello da Carrara (1359 – 1406), Fürst von Padua, zugeordnet. Dingwall 1931 stellte frühe Beschreibungen dieser Ausstellung zusammen und fand den Gürtel erstmals für 1688 erwähnt.2 Er wird also seit mind. 330 Jahren öffentlich gezeigt. Aufgrund der fast ebenso grossen zeitlichen Lücke bis zurück zum Fürsten von Padua kann diese Verknüpfung eigentlich nur eine Mutmassung der Fremdenführer sein. Eine Entstehung im 17. Jh. erscheint wahrscheinlicher, immerhin begann damals die Begeisterung für Kuriositätenkabinette, in welche ein Keuschheitsgürtel – wie alt und «echt» auch immer – wunderbar passte.

2: Dingwall 1931, 35-44.

Datierung unseres «modernen» Keuschheitsgürtels

Zurück zu unserem Gürtel. Er gehörte 1882 zum Inventar der chirurgischen Klinik und muss vorher hergestellt worden sein. Sichere Gebrauchsspuren fehlen und Material wie Verarbeitung der Polsterung passen gut ins Orthopädiewesen des mittleren bis jüngeren 19. Jh. Eine Herstellermarke fehlt zwar, aber eine solche war damals auch nicht zwingend. Viel älter als 1860 kann er nicht sein, denn die Messingteile wurden maschinell überarbeitet.

Bei einem Alter von mindestens 140 Jahren dürfte er rechtens als Antiquität bezeichnet werden, im Kontext der bei Dingwall 1931 als «möglicherweise echt» besprochenen Stücke wirkt er aber einfach nur modern. Alle anderen scheinen technisch und handwerklich auf primitiv getrimmt zu sein. Unserem Stück fehlt zudem die amouröse bis erotische Symbolik jener Stücke, sondern es ist schlicht auf Funktionalität und Tragekomfort ausgelegt.

In medizinischen Katalogen aus dem jüngeren 19. Jh. konnten wir bisher keinen Keuschheitsgürtel finden. Das einem schamhaften Schweigen passend zur Prüderie der Zeit anzulasten, fällt schwer. Es sind durchaus orthopädische Behelfe für intime Zwecke abgebildet – sei es zum Auffangen von Monatsblutung oder Inkontinenz, zur Fixierung von Stützpessaren für die Gebärmutter – und nicht zu vergessen die Onaniebandagen. Prüderie allein kann also nicht der Grund sein, weshalb wir kein mechanisch oder funktional vergleichbares Stück gefunden haben. Falls Ihnen eines bekannt sein sollte, bitten wir um freundliche Mitteilung der Quelle!

Viktorianische Keuschheitsgürtel?

So bleibt auch uns nichts anderes übrig, als mehr zu schreiben, als wir wissen und im Rahmen neuerer Debatten zu spekulieren. Im 19. Jh. soll im angelsächsischen Raum diskutiert worden sein, ob sich Frauen ausser Haus generell bzw. Hausangestellte gegen Übergriffe ihrer Dienstherren im Besonderen mit einem Keuschheitsgürtel schützen sollten.3 Das mechanische Hindernis könnte den Angreifer – so die Befürworter – soweit aus der Fassung bringen, um wieder zur Vernunft zu kommen. Als Gegenargument wurde u.a. die Befürchtung geäussert, die Überraschung könnte beim Angreifer einen Wutanfall bis hin zu Tätlichkeit und Körperverletzung auslösen.

Ein solches Dilemma könnte die mässige Stärke der Metallteile unser Gürtel erklären. Der Gürtel bot keinen massiven mechanischen Schutz, dafür war er leicht und unauffällig unter der damals üblichen Kleidung zu tragen. Trotzdem war er ganz ohne Werkzeug allein mit blossen Händen schwer zu öffnen.

Im geschilderten gedanklichen Umfeld wäre dieser Gürtel ein plausibles Produktangebot gewesen. Bis wir das aber konkret nachweisen können, nehmen wir die Existenz unsere Stücks interessiert zur Kenntnis und belassen seine Interpretation im Konjunktiv.

3: Bisher nur Hinweise aus dritter Hand gefunden. Selbst die betreffenden Verweise in Wikipedia führten zu keiner zeitgenössischen Quelle. Sollten sich belastbare Zitate finden, reichen wir sie hier nach.

Martin Trachsel