Navigation auf uzh.ch

Suche

Medizinische Sammlung

Dr. Wunderlich und der Leyser’sche Krankenthermometer

Beschreibung

Etwa 21 Zentimeter langer Quecksilberthermometer aus Glas mit kugeligem Reservoir, langem Zwischenstück und vorgedruckter Papierskala von 20 bis 45 Grad Celsius mit durchgehender ½°-Teilung sowie 1/10°-Teilung von 33 bis 43 °C und rotem Strich bei 37 °C (Vgl. Abb. 2); abgeschlossen mit einer niedrigen Messingkappe.

1
Abb. 1: Leyser’scher Thermometer mit Hülsenetui aus Holz.

© Institut für Evolutionäre Medizin

2
Abb. 2: Leyser’scher Thermometer, Detail der Papierskala mit roter Markierung bei 37 °C.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Dr. Wunderlich und die Etablierung des Fiebermessens

Das Messen der Körpertemperatur begann im frühen 18. Jh. In der 1714 definierten Temperaturskala nach Fahrenheit ist sie sogar einer der drei Fixpunkte. Man wusste aber medizinisch wenig Nützliches damit anzufangen, da die Temperatur nach Körperstelle, Tätigkeit, Umgebungstemperatur und Bedeckung variiert. Man merkte aber schnell, dass die höchste Temperatur im Körperinneren lag, die sog. Kern- oder Bluttemperatur.

Die Schiffsärzte der global operierenden Handels- und Kriegsflotten Grossbritanniens waren oft mit Unterkühlung, Hitzeschlag und hohen Fiebern konfrontiert, die man in Extremfällen durch Kühlen oder Erwärmen behandeln musste. Das Empfinden der Patienten selbst war aber oft gegenläufig zur Körpertemperatur (Schüttelfrost, Schweissausbrüche) und das «Temperaturgefühl» der Ärzte und Pfleger unzuverlässig. Deshalb regte James Currie (1756-1805), Arzt in Liverpool, 1797 an, die Temperatur der Patienten besser mit einem Thermometer zu messen. Für diesen Zweck wurden die ersten medizinischen Thermometer entworfen.

Wie wichtig und zentral die Kerntemperatur wirklich war, konnte erst mit langen, systematischen Messreihen nachgewiesen werden, die von Carl Reinhard August Wunderlich (1815-1877) in Leipzig begonnen wurden und für die er nach und nach immer mehr Kollegen in anderen Krankenhäusern der Region gewinnen konnte. Die Auswertung dieser Daten in den 1860er Jahren1 veränderte die Medizin für immer, als sich die Kurve der Kerntemperatur als ein wichtiges Mass für den Krankheitsverlauf erwies. 1866/67 wurde das «Fiebermessen» international zu einem Schlüsselelement der Diagnostik.

1: Zahlreiche Schriften und Autoren, beginnend mit Wunderlich 1860, wirkungsgeschichtlich wichtig Wunderlich 1868.

Der Leyser’sche Thermometer

Einer der Gründe für diesen Durchbruch war, dass die Messreihen mit aufeinander abgestimmten Thermometern vorgenommen wurden. Wunderlich selbst verwendete Thermometer von Georg Moritz Ludwig Leyser, Mechanikus und «Inspector des physikalischen Cabinets» der Universität Leipzig und empfahl sie in seinen Schriften weiter. Von anderen Herstellern wurden ähnliche Modelle als «Wunderlich’s» oder «Leipziger Krankenthermometer» angeboten und begründeten den Typus des ca. 20 cm langen Hohlglasthermometers mit Metallkappe, der sich mit laufenden Aktualisierungen als der «Krankenthermometer» bis in die 1920er halten sollte.

In Deutschland wurden thermometrische Studien oft mit Leyser’schen Thermometern durchgeführt, denn sie galten zwar als einfach, aber auch als gut und günstig. Wir können sogar deren Verkaufszahlen abschätzen. 1863 waren etwas mehr als 1000 Stück verkauft und aus drei datierten Studien kennen wir die Seriennummer der benutzen Leyserschen Thermometer. Anhand dieser vier Punkte lässt sich eine Kurve interpolieren, mit der sich aus der Seriennummer das ungefähre Herstellungsjahr schätzen lässt, und umgekehrt (Vgl. Abb. 3).

3
Abb. 3: Interpolation Seriennummer – Herstellungsjahr.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Die höchste uns bekannteste Seriennummer liegt etwas über 64 000 und müsste um 1886 hergestellt worden sein. Daraus ergibt sich ein mittlerer Absatz von ca. 2500 Stück/Jahr. Vergleicht man die erhaltenen Exemplare und ihre Seriennummern, zeigt sich auch, dass der Leyser’sche Thermometer mehr als 20 Jahre lang in unveränderter Form verkauft wurde. Kennzeichnend sind das recht kleine, kugelige Reservoir, das Fehlen einer Maximum-Einrichtung,2 die von 20 bis 45 °C reichende Papierskala und die niedrige Messingkappe.

2: Eine Vorrichtung im Thermometer, die den höchsten Stand anzeigt.

Der Fluch der thermischen Nachwirkung

Als sich 1867 die Forschungsergebnisse aus Leipzig verbreiteten, wurden selbst in Wien und London plötzlich Thermometer aus Leipzig angeboten.3 Aber nur für kurze Zeit, denn deutsche Thermometer erwarben sich fast ebenso rasch den Ruf, ungenau zu sein. Auf den britischen Inseln setzten sich ausserdem deutlich kompaktere Stabthermometer (Vgl. Abb. 4) nach dem Modell von Jeffrey Allbutt durch, der bereits 1867 auch als Maximum-Thermometer zu kaufen war.4

3: Wien: Wiener Medizinische Presse vom 11. August 1867, S. 807, Anzeige Czermack. London: A Yearbook of Medicine, Surgery and Their Allied Sciences for 1862. London: 1863, S. 203, Fussnote.
4: Allbutt, Thomas Clifford: Short clinical thermometer. Medical Times and Gazette March 23 1867, S. 316.

4
Abb. 4: Grössenvergleich Leyser’scher Thermometer und englischer Stabthermometer.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Glas ist nicht gleich Glas und das war der Pferdefuss der deutschen Thermometer. In Frankreich wurden Thermometer aus sogenanntem «verre dur» hergestellt, auf den Britischen Inseln aus «Kew-glass» und in Deutschland aus dem «Thüringer Thermometerglas».

Wie die meisten Feststoffe dehnt sich Glas beim Erhitzen aus und zieht sich beim Abkühlen wieder zusammen. Aber das Zusammenziehen erfolgt verzögert und kann sich je nach Glassorte über Stunden, Monate oder Jahre hinziehen: die sogenannte «thermische Nachwirkung». Ein direkt nach der Herstellung kalibrierter Thermometer zog sich über längere Zeit zusammen. Das Volumen im Glas schrumpfte, drückte immer mehr Quecksilber in die Kapillare hoch und der angezeigte Wert stieg entsprechend an – das gefürchtete «Ansteigen des Eispunkts».5

Auf 100 °C Erhitzung betrug die Nachwirkung bei «verre dur» 0.1 °C, beim Kew-glass 0.2 °C und bei deutschem Glas 0.5 °C und mehr.6 Weil Glas bei mehreren Hundert Grad verarbeitet wird, konnte es bei deutschen Thermometern zu nachträglichen Anstiegen um mehrere °C kommen! Der schlechte Ruf im Ausland war also begründet.

Die Gegenmassnahmen bei der Herstellung waren aufwändig. Mit langsamer, gestufter Abkühlung der Glasteile liess sich ein Teil des Schrumpfens beschleunigen, aber den Rest konnte man nur durch längere Lagerung abbauen. Eigentlich hätte man die Glasteile erst nach mehreren Jahren Lagerung mit Quecksilber befüllen und eichen sollen. Da aber die Nachfrage 1867 explodiert war und ständig wuchs, hätten die Hersteller ein grosses Geschäft verpasst. Also versah man die Thermometer mit einer Serien- / Fabriknummer und empfahl den Käufern, die notwendige Korrektur regelmässig bestimmen zu lassen. Die Nummern erlaubten es, darüber Buch zu führen. Bei den Thermometern für die Studien der 1860er Jahre hatte das ja auch funktioniert.

Möglicherweise blieb die Form der Leyser’schen Thermometer deshalb so lange unverändert, weil man so die Glasteile einfacher die nötige Zeit ruhen lassen konnte, bevor man sie befüllte. Das würde ihren guten Ruf in Deutschland erklären.

Das Problem hätte sich einfach lösen lassen, hätte man «verre dur» importiert und verarbeitet. Aber erstens war das Problem wohl noch nicht in dieser Klarheit erkannt und zweitens war der Handel zwischen Deutschland und Frankreich aufgrund der damals grassierenden nationalistischen Aufladung alles andere als einfach.

5: Wird ein Thermometer in Eiswasser getaucht, sollte es 0° C anzeigen. Wegen der thermischen Nachwirkung war es normalerweise mehr.
6: Henning 1919, S. 83.

Das Jenaer Normalglas

Den technischen Ausweg fand schliesslich das 1884 gegründete «Glastechnische Laboratorium Schott & Genossen» in Jena.  Dort stellte man fest, dass die thermische Nachwirkung am grössten war, wenn sich Natrium und Kalium im Glas die Waage hielten. Mit solchen Erkenntnissen wurde noch 1884 das «Jenaer Normalglas 16 III» entwickelt, dessen thermische Nachwirkung nur noch halb so gross war, wie die von «verre dur», und das ab 1886 in relevanten Mengen in den Handel kam. Für die Thermometerproduktion wurde es in Form dünner Röhren angeboten, in die ein längslaufender, purpurfarbener Streifen eingeschmolzen war. Ein Thermometer mit diesem Streifen, oft ergänzt mit dem Aufdruck «Normalglas» (Vgl. Abb. 5) besteht aus diesem neuen Material.

5
Abb. 5: Detail eines Thermometers aus Jenaer Normalglas 16 III. Man beachte den schwachen violetten Streifen als permanente Kennzeichnung der Glassorte.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Um 1886 endete offenbar auch die Herstellung der Leyser’schen Thermometer, was kein Zufall sein dürfte. Ihre Form und Technik waren eigentlich schon 1870 veraltet und der vermutete technische Vorteil durch eine besonnene Verarbeitung war durch das neue Glas hinfällig geworden.

Auch kein Zufall dürfte sein, dass in Deutschland trotz Drängen der Mediziner erst vom 10. November 1885 an – also um die Markteinführung des Jenaer Normalglases herum – medizinische Thermometer zur reichsamtlichen Prüfung zugelassen wurden. In Grossbritannien und Frankreich war das Jahrzehnte früher geschehen. Vor der Erfindung des Jenaer Normalglases hatte wohl niemand in Politik und Wirtschaft Interesse daran, die wahre «Qualität» deutscher Thermometer offenzulegen. Befreit vom alten Fluch aber wurde die Thermometerproduktion nach 1890 zu einem Exportschlager der deutschen Industrie.

Martin Trachsel

Unterseiten