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Medizinische Sammlung

Der Stirnkühler «PSYGMA» – Eine Objektgeschichte zum Deutschen Kopfschmerztag am 5. September 2020

Abb.1
Abb. 1: Stirnkühler Inv.Nr. 2294.01 auf Modellkopf.

© Institut für Evolutionäre Medizin

In unserer Sammlung befinden sich Objekte, die auf den ersten Blick seriös wirken, bei näherer Betrachtung aber immer schräger und abwegiger werden. Andere wiederum umweht irgendwie ein Hauch von Quacksalberei, die sich aber als durchaus ernsthafte Konzepte entpuppen.

Heute zum Deutschen Kopfschmerztag stellen wir uns diese Frage zu einem Gerät, das in unserer alten Kartei ungewollt mehrdeutig als «Kopfschmerzapparat» inventarisiert war (Abb. 1).

Abb.2
Abb. 2: Stirnkühler Inv.Nr. 2294.01 in Schrägansicht.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Beschreibung des Apparates

Das Kernstück besteht aus einem rechteckigen Aluminiumblech, in das übereinander vier Reihen von jeweils 16 senkrechten Schlitzen gestanzt wurden (Abb. 2). Durch jede der vier Schlitzreihen ist ein 0.9 cm breites Band aus Aluminiumblech so geknickt und geflochten, dass sie auf jeder Seite eine gebogene Fläche aus 4 x 16 Rechtecken bilden: Die inneren Flächen liegt auf dem Hauptblech auf, die äussere «schwebt» quasi 1,8 cm darüber.  An den schmalen Seiten des Hauptblechs sind geschlitzte Bleche befestigt, in welche die Enden eines Kopfbands eingezogen wurden.

Abb. 3: Knappe Gebrauchsanweisung zu Inv.Nr. 8881.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Abb.4
Abb. 4: Gerät mit Originalschachtel und Baumwollfäden. Letztere sollten zur stärkeren Kühlung befeuchtet und zwischen die Lamellen gelegt werden. Inv.Nr. 8881.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Funktionsweise

Erste Recherchen ergaben, dass dieses Gerät von der Firma Athos-Laboratorium in Berlin entwickelt und per 4. 5. 1919 als «Kopfkühlvorrichtung» unter der Nummer D.R.P. 339 186 patentiert worden war. Die Markteinführung erfolgte offenbar Ende 1920., also genau vor einem Jahrhundert.

Der Funktionsweise ähnelt der eines Luftkühler an einem Automotor. Die auf der Haut aufliegende Seite sollte die Körperwärme aufnehmen und an die aussenliegenden Blechelemente weiterleiten, wo die Wärme an die Luft abgegeben wurde. Die offene Konstruktion mit den radial angeordneten dreieckigen «Fächern» soll die Kontaktfläche zwischen Luft und Aluminium verfünffacht haben, wovon man sich eine entsprechend verstärkte Wärmeabstrahlung und somit Kühlung versprach.

Primär zur Kühlung der Stirn entworfen, sollte das Gerät auch zur Kühlung des Hinterkopfes oder des Herzens genutzt werden können. Wurde z.B. für letzteres ein noch stärkerer Effekt gewünscht, sollten laut Gebrauchsanweisung (Abb. 3) angefeuchtete Watte- oder Schwammteile zwischen die Lamellen geschoben werden; bei einem originalverpackten Gerät unserer Sammlung liegen allerdings Garnstrangen aus Baumwolle bei (Abb. 4). An die Kühlleistung von Geräten, die mit Eis oder fliessendem Wasser betrieben wurden, kam der Psygma nicht heran. Dafür war er bedeutend einfacher anzuwenden und liess sich sogar ambulant tragen.

Die Herleitung des griechischen Namens wird in der Werbung zum Stirnkühler nicht erläutert. Der ungewöhnliche Name erleichterte uns die Recherche nach potentiellen Quellen ungemein. Nach einem klassischen altgriechischen Wörterbuch steht das Wort ψυγμα für «Abkühlung» bzw. ein «Kühlmittel», konkret auch für einen Fächer oder Wedel.1 Bei der Benennung biologischer Arten wird «psygma» meistens im Sinn von «Fächer» bzw. «fächerförmig» verwendet. Von der Seite betrachtet zeigt die Aluminiumkonstruktion tatsächlich die Form eines Fächers (Abb. 5). Das Gerät erfüllt somit zwei Hauptbedeutungen des altgriechischen Wortes gleichzeitig.

 

1: Reichenbach, Johann Friedrich Jacob: Allgemeines Griechisch-deutsches Handwörterbuch, 2. Auflage. Band 2. Leipzig: Barth 1825, S. 884.

Abb.5
Abb. 5: Detail der fächerförmigen Konstruktionsweise. Inv.Nr. 2294.01.

© Institut für Evolutionäre Medizin

1920 – eine Zeit des Umbruchs

Das Gerät ist ein Produkt seiner Zeit, sowohl was seine Konstruktion als auch das adressierte Krankheitsbild betrifft. Die zur Beendigung des ersten Weltkriegs geschlossenen Verträge von Versailles verboten Deutschland unter anderem den Aufbau von Luftstreitkräften.2 Zuvor hochbegehrte Aluminiumteile in Leichtbauweise waren deutlich weniger gefragt und deren Hersteller mussten neue, zivile Anwendungen für Material und Technik finden. Vielleicht sollte der Stirnkühler ein solches Produkt sein, immerhin nutzt er vier besondere Eigenschaften des damals noch recht neuen Werkstoffs Aluminium:

  • geringes spezifische Gewicht
  • gute Wärmeleitfähigkeit
  • eine vergleichsweise hohe Korrosionsresistenz
  • vielfältige Möglichkeiten der Kaltformung mittels walzen, stanzen und falten


Auch das angesprochene Krankheitsbild passt wie massgeschneidert in die Zeit. Die jahrelangen, massiven seelischen Belastungen des Krieges zogen eine Vielzahl psychischer und psychosomatischer Befindlichkeitsstörungen nach sich, worunter Kopfdruck bzw. -schmerz oder das Empfinden geistiger Erschöpfung recht verbreitet waren. Ein simples Gegenmittel, das nach dem Kauf ohne weitere Kosten, ohne Nebenwirkungen und ohne Suchtgefahr benutzt werden konnte, wirkte schon fast wie ein Wunder. Aber war der Psygma auch entsprechend erfolgreich?

2: Wikipedia, Friedensvertrag von Versailles, Militärische Bestimmungen.

Abb.6
Abb. 6: Emaillierte Werbeplakette des Herstellers, vermutlich zum Aushang bei den Detailhändlern. Inv.Nr. 2294.02.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Werbung versus Erfahrung

Der Stirnkühler wurde primär als «natürliche Hilfe gegen Kopfschmerz, heißen Kopf und geistige Erschöpfung» beworben, vgl. die Werbeplakette (Abb. 6). Das «natürlich» bezieht sich sowohl auf die lindernde Wirkung physischer Kühlung, als auch die passive Nutzung der physikalischen Eigenschaften von Material und Konstruktion des Kühlers. Auch liess sich mit diesem Wort der Psygma von den damals boomenden Pharmazeutika der chemischen Industrie abgrenzen.

Aufschluss zur tatsächlichen Leistung des Geräts bietet ein kurzer Artikel von Arthur Kornfeld, einem Arzt aus Berlin dem es ein Anliegen war, die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf dieses Gerät zu lenken, obschon es keinen medizinischen Durchbruch repräsentierte.

«Ich erachte es nicht unter der Würde wissenschaftlichen Arbeitens, von einem kleinen Apparat zu berichten, der mir in der nervenärztlichen und internen Praxis viel Freude gemacht hat. Er heisst Psygma und soll ganz einfach die kalte Kompresse auf Kopf und Herz verdrängen.»3

Kornfeld beschrieb zunächst die altbekannten Schwächen der kalten Kompresse: Austretende Feuchtigkeit wird als störend empfunden und macht es den Patienten fast unmöglich, sich während der Applikation der Kompresse zu bewegen. Sie erwärmt sich rascher als erwünscht und trocknet zusehends, muss also regelmässig aufgefrischt werden. Auch kann ihr Gewicht dem Behandlungsziel entgegenwirken. In allen diesen Punkten erkannte er klare Vorteile für den Psygma.

Im zweiten Teil präsentierte er eine Fallstudie, bei der er die geistige Leistungsfähigkeit einer chronischen Kopfschmerzpatientin mit und ohne Psygma zu quantifizieren versuchte. Eine einzelne Studie beweist natürlich nichts, das war ihm selbst auch klar. Aber es demonstriert das Bemühen der Zeit, sich solchen Fragen durchaus auch experimentell zu nähern und den in der Werbung erhobenen Anspruch zu überprüfen.

3: Kornfeld 1921, S. 308.

Abb.7
Abb. 7: Inserat eines Detailhändlers abgedruckt im Simplicissimus vom 27. April 1921, S. 60.

Präsenz am Markt

In der Allgemeinen Medizinischen Central-Zeitung (Berlin) schaltete der Hersteller ab dem 27. November 1920 regelmässig, Heft für Heft, ein Inserat für den Psygma. Zum zweiten Inserat erschien zusätzlich eine Kurzvorstellung des Gerätes im redaktionellen Teil der Zeitschrift.4 Ausserdem wurde der Stirnkühler am 3. Jahreskongress der Ärztlichen Gesellschaft für Mechanotherapie vom 27.-29. Dezember 1920 in Friedrichroda von einem Herrn Hirsch aus Berlin-Charlottenburg vorgeführt.5 Im März konnte der Hersteller zudem einen grossen Auftrag aus den USA vermelden, die Rede ist von 250 000 Stück.6

Die Werbekampagne des Herstellers in der Medizinischen Central-Zeitung endete jedoch am 28. Mai 1921. Gelegentliche Inserate des Detailhandels (Abb. 7) fallen – soweit wir es überblicken – ebenfalls in diesen engen Zeitraum. Danach wird es ruhig um den Psygma.

Der Apparat sollte auch ausserhalb Deutschlands verkauft werden, in den Quellen werden allerdings nur Vorbereitungen dazu fassbar. In den USA war ein Patentantrag für den Psygma seit August 1920 angekündigt,7 scheint aber nie offiziell gestellt worden zu sein. An der Interkantonalen Kontrollstelle für Geheimmittel und medizinische Spezialitäten in Zürich wurde zwar ein Antrag zur Zulassung des Psygma gestellt, aber offenbar nie darüber entschieden.8 Nur in Basel wurde am 21. August 1921 noch die Kommanditgesellschaft O. Bally & Cie gegründet mit der erklärten Absicht, die Generalvertretung des Psygma für die Schweiz zu übernehmen. Sie trat aber bereits per 4. Januar 1922 wieder in Liquidation.9

Nach einem konzentrierten Marktstart Ende 1920 verlieren sich alle konkreten Spuren des Psygma zwischen Mai 1921 und Januar 1922. Es kann durchaus sein, dass bei Erscheinen von Kornfelds Artikel am 24. September 1921 die Produktion des Gerätes bereits wieder eingestellt war.

Was war geschehen? Besass der Psygma einen «Pferdefuss», der uns entgangen ist und der in den Quellen nicht erwähnt wird? Hat sich die Firma am grossen Auftrag aus Amerika ruiniert? Waren die wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Wirren der Zeit zu gross? Oder verdrängte ihn unerwähnte Konkurrenz, z.B. Eisbeutel aus Gummi oder neue Pharmazeutika? Aus den verfügbaren Quellen lässt sich das nicht beantworten.

Gemäss Dr. Kornfeld scheint das Gerät seine Leistung durchaus im Rahmen der Erwartungen erfüllt zu haben: Keine dauerhafte «Heilung», aber eine temporäre, subjektive Linderung ähnlich der einer kalte Kompresse – und das offenbar ohne deren grössten Nachteile. Es handelt sich beim Psygma also keineswegs um reine Quacksalberei. Offen bleibt aber, ob er sich dauerhaft gegen Konkurrenzlösungen hätte behaupten können. Das plötzliche, aber ungeklärte Ende seiner Vermarktung lässt diesbezüglich keine definitive Antwort zu.

 

4: Allgemeinen Medizinischen Central-Zeitung (Berlin) vom 4. Dezember 1920, S. 264.
5: Fortschritte der Medizin (Darmstadt), 38. Jahrgang, Nr. 12 vom 30. Juni 1921, S. 436.
6: Pharmazeutische Zentralhalle für Deutschland, 62. Jahrgang. Nr. 12 vom 24. März 1921, S. 184.
7: Hearings before the Committee on Patents, United States Senate, Sixty-seventh Congress, Second session on S. 3325 and S. 3410, April 6, Mai 1, 3 and 4, 1922, S. 23 unten.
8: Karteikarte in alten Unterlagen zur sog. «Kurpfuschersammlung» der Medizinischen Sammlung Zürich.
9: Schweizerisches Handelsamtsblatt vom 10. X. 1921, S. 1963; 9. I. 1922, S. 38.

Martin Trachsel