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Medizinische Sammlung

Lost in translation – Wie die Akupunktur nach Europa kam

The operation of acupuncturation has been seen by so few Europeans that our books have made us acquainted with little more than its name.1

1: Churchill 1821, S. 5.

Erste Berichte

Über die in China und Japan gebräuchliche Akupunktur erfuhr man in Europa erstmals aus Reiseberichten des 17. Jahrhunderts. Die asiatischen Länder waren von den «südlichen Barbaren»2 wenig beeindruckt und zunächst kaum am kulturellen und wissenschaftlichen Austausch mit ihnen interessiert. Diese waren ihrerseits wenig bereit, sich auf die Gedankenwelten der in ihren Augen «abergläubischen Heiden» einzulassen. So erreichten zwar einige Geräte oder zumindest deren Abbildungen Europa, nicht aber deren genaue Verwendung und schon gar nicht die Breite und Vielfalt der Theorien, die ihrem Einsatz zugrunde lagen.

2: «namban», jap. für «südliche Barbaren», war eine geläufige Bezeichnung für die ersten Europäer, die Japan eigentlich von Westen her, auf der letzten Etappe aber von Süden her erreichten (vgl. Wikipedia: Epoche des Namban-Handels).

Lost in Translation

Der Begriff «Akupunktur» (lat. für «Nadelstechen») geht auf Willem ten Rhijne (1647-1700) zurück, der 1683 eine Sammlung von Schriften und Briefen zur asiatischen Medizin publizierte. Wie andere Europäer vor ihm deutete er die asiatischen Darstellungen der Meridiane/Leitbahnen des Qi einfach als Blutgefässe. Qi ist zwar DER zentrale Begriff in der asiatischen Medizin, doch ohne direkte Entsprechung in der abendländischen Medizin. Dieses Miss- und Unverständnis schnitt das Verfahren komplett von seinen traditionellen Wurzeln ab. Die originale asiatische Literatur wurde im Westen erst ab dem mittleren 19. Jh. nach und nach wahrgenommen.

Neuerfindung in Frankreich

Als im frühen 19. Jh. die ersten Europäer mit der Akupunktur zu experimentieren begannen, mussten sie Theorie und Praxis quasi aus dem Nichts erfinden. Entsprechend holprig verliefen die Anfänge.

Die Akupunktur wurde medizinisch der kleinen Chirurgie zugesellt, genauer gesagt und durchaus richtig den oberflächennahen Verfahren mit (angenommenem) Einfluss auf die Gesamtgesundheit. Dazu zählten in der westlichen Tradition das Schröpfen, der Aderlass, die Kauterisation  und auch das Setzen von Haarseil und Fontanelle.4 So kontraproduktiv die meisten dieser Verfahren aus heutiger Sicht auch anmuten mögen, ihre Wirkungsweise lag in der auf die klassische Antike zurückreichenden Humoralpathologie5 begründet und wurde nicht bezweifelt.

Vermutlich war Louis Berlioz (1776-1848), Arzt und Vater des Komponisten Hector Berlioz, 1810 der erste, der in Europa eine Patientin mit Akupunktur behandelte und darüber berichtete. Mit etwas Verzögerung folgten ihm weitere französische Ärzte und um 1825 scheint diese Behandlung fast schon eine kleine Mode geworden zu sein, ungeachtet der weitgehend experimentellen Natur ihrer Anwendung.
Anfangs behandelte man neurologische bzw. rheumatische Leiden, suchte aber laufend das Anwendungsgebiet zu erweitern. Die Nadel wurde grundsätzlich so tief ins Fleisch gedrückt, bis ihre Spitze die Tiefe des Schmerzes oder vermuteten Übels erreichte. Die asiatische Lehre des Qi war ja unbekannt und die europäische Doktrin sah vor, direkte physische Wirkung zu erzielen.

Verglichen mit der heute ausgeübten asiatischen Akupunktur wirkt das brutal. Aber erstens formierte sich diese schonende Variante auch in Asien rund 100 Jahre später, und im Vergleich mit anderen Verfahren der kleinen Chirurgie war die europäische Akupunktur immer noch sehr human, was ihre vorübergehende Popularität erklären dürfte.

Weil die Akupunktur nicht direkt in den von der Humoralpathologie vorausgesetzten körpereigenen Säftehaushalt eingriff, wurden neue Erklärungen zur Wirkungsweise gesucht. Es wurde viel experimentiert und anhand der Ergebnisse Theorien entwickelt und diskutiert. Letztlich konnten sich weder ein bestimmtes Verfahren noch eine konsistente Theorie etablieren und so blieb die frühe Akupunktur in Europa eine medizinhistorische Episode.

3: Wikipedia: Kauterisation).

4: Wikipedia: Haarseil).

5: Wikipedia: Humoralpathologie).

Variation in Grossbritannien

Die erstmalige Einführung der Akupunktur auf den Britischen Inseln erfolgte etwas später als in Frankreich und ist mit den drei Namen James Scott, James Morss Churchill (1796?-1863) und Edward Jukes verbunden, drei miteinander befreundeten Mediziner, die damals in London im Bereich Westminster tätig waren.6

Churchill schreibt, James Scott habe die Berichte aus Frankreich verfolgt und als erster westlich des Kanals begonnen, die Akupunktur anzuwenden. Churchill wohnte mehrfach einer Akupunkturbehandlung durch Scotts bei und übernahm schliesslich dessen Arbeitsweise in die eigene Praxis.7 Scotts Arbeitskollege Edward Jukes, Chirurg und Geburtshelfer am Westminster Hospital, muss sie ebenfalls übernommen haben, denn als Scott 1821 selbst eine Behandlung wünschte, bat er diesen darum.8 Umgekehrt, als Jukes 1822 seine Magenpumpe entwickelte, assistierte ihm James Scott bei seinen Experimenten.9

6: Die Namen sind teils so geläufig, dass sie sich bisher nicht mit sicher identifizierten Personen verbinden lassen, wohl aber mit meist kleinen Publikationen.

7: Churchill 1821, S. 11.

8: Churchill 1821, S. 65-72.

9: The Medico-chirurgical Review, and Journal of Medical Science Vol. III for 1822-1823, (Quarterly Periscope of practical medicine, Dec. 1822,) 683-684.

Anwendung gemäss Churchill

Churchill ging davon aus, Japaner und Chinesen würden die Nadeln mit kleinen Hämmern ins Fleisch treiben.10 Er lehnte diese Methode ab und zog es – wie vor ihm schon Berlioz – die Nadelspitze aufzusetzen und den Nadelgriff zwischen Daumen und Zeigefinger rollend mit leichtem Druck langsam eindringen zu lassen. Gelegentlich sollte der Chirurg innehalten und den Patienten fragen, ob er die Nadel noch ertrage, oder besser wieder entfernen solle. Wurde die gewünschte Tiefe erreicht, sollte die Nadel fünf bis sechs Minuten dort belassen werden, bevor man sie herauszog.11

Mehr als eine Nadel anzuwenden, hielt Churchill in den meisten Fällen für unnütz; nur wenn der zu behandelnde Schmerz der Nadel auswich, hielt er es für zielführend, ihn mit weiteren Nadeln zu verfolgen.12

Generell war der Ansicht, dass die Akupunktur auch mit diesen kurzen Nadeln nicht ganz trivial sei und dass ihre Anwendung ausgebildeten Chirurgen vorbehalten sein sollte, die über die Anatomie soweit Bescheid wussten, dass sie ihre Nadeln nicht in grössere Blutgefässe, Nervenstränge oder Sehnen stachen.13

10: Das war allerdings nur bei einer damals gerade neuen Variante in Japan der Fall.

11: Churchill 1821, S. 79-80.

12: Churchill 1821, S. 81-82.

13: Churchill 1821, S. 14.

Abb. 1: Churchill 1821, Tafel. Fig. 1 und 2: Nadeln nach Jukes von 1 Zoll bzw. 1.5 Zoll Länge. Daneben die Nadel nach Demour von 3 Zoll Länge mit Kopf aus Siegelwachs.

Bildtitel: L0029008 J.M. Churchill, Treatise on Acupuncture, 1821.

Credit: Wellcome Library, London. Wellcome Images images@wellcome.ac.uk http://wellcomeimages.org Mr. Demour's Needle. Lenths of one inch and a half (figure 1) and one inch (figure 2). A treatise on acupuncture; being a surgical operation orginally peculiar to the Japonese (sic) and Chinese... James Morss Churchill Published: 1821.

Fotograf: Wellcome Library, London.

Urheberrechte: Copyrighted work available under Creative Commons Attribution only licence CC BY 4.0 http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Die Originaldatei ist hier zu finden.

Die Akupunkturnadel nach Jukes

Churchill wagte es nicht, den kühneren Vorbildern aus Frankreich zu folgen und mit 3 Zoll (ca. 8 cm) langen Stahlnadeln bis in die Organe vorzudringen.14 Er fand, 1 bis 1 ½ Zoll (ca. 2.5 – 4 cm) Länge reichten völlig und benutzte dafür eine von Edward Jukes entworfenen Nadelform. Sie besteht aus einer dünnen, einfachen Nähnadel mit einem konischen Griff aus Elfenbein und einer Art gewölbten Stichblatt aus Metall15 gegen zu tiefes Eindringen (Abb. 1).

Um die manchmal etwas wirren Schilderungen in der Literatur und besonders im WEB zu klären: Scott führte die Operation der Akupunktur in England ein, Jukes entwickelte die typische Nadel und Churchill beschrieb 1821 beides in seinem kleinen, aber populären Buch.

Hergestellt und verkauft wurden die Nadeln offenbar von verschiedenen Anbietern.16
Im WEB lassen sich nur selten Fotos von Nadeln «nach Jukes» finden. Gelegentlich werden entsprechend bezeichnete Stücke im spezialisierten Antikenhandel angeboten, aber meistens ohne Provenienz oder unabhängige Datierung.17
Keine davon sieht genauso aus wie unsere oder exakt wie eine aus einem der antiquarisch angebotenen Sets. Immerhin scheinen die Nadellängen immer im Bereich zwischen 2,5 und 4 cm zu liegen und Sets von mehr als drei Nadeln fehlen bislang.

14: Vgl. Churchill 1821, S. 82-84.

15: So beschrieben und interpretiert in «Ueber die Acupunctur» in Frorieps Notizen, Nr. 39 (Band II, Nr. 17) Junius 1822, S. 263-265. Die Abbildung bei Churchill 1821 lässt die Interpretation als Stichblatt zu, wird im Text aber nicht explizit beschrieben.

16: Churchill 1821, S. 86, nennt die beiden chirurgischen Instrumentenmacher Blackwell und Laundy in London.

17: Dafür öfter als “Churchill acupuncture needles” bezeichnet.

Abb. 2
Abb. 2: Blick ins Etui MHSZ 2288.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Abb. 3
Abb 3: Etui MHSZ 2288 von aussen, Inhalt ausgelegt.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Vielfalt der Nadelformen

Im Etui MHSZ 2288 (Abb. 2) befinden sich insgesamt vierzehn Nadeln unterschiedlicher Form und Machart. Nur zwei davon können wir aufgrund ihres weit ausladenden Stichblatts als «nach Jukes» gelten lassen (Abb. 5).

Die zwölf übrigen Nadeln zeigen kleinere, ovale Stichblätter und teils einfachere Formen von Griffen (Abb. 3). Fünf davon besitzen einen konisch gedrechselten Griff aus Perlmutt mit abgesetztem kleinem Knauf am Ende, bei denen sich eine Verwandtschaft mit dem Typus nach Jukes zumindest vermuten lässt. Eine dritte Gruppe von sieben Nadeln besitzt gerundet vierkantige Griffe aus Elfenbein ohne Knauf und ein flaches, ovalen Stichblatt und nur ihre dünnen und kurzen Nadeln verbinden sie mit denen nach Jukes.

Ausser diesem Etui besitzen wir weitere drei Sets von Nadeln der dritten Gruppe, d.h. mit vierkantigen Griffen aus Elfenbein und ovalen, flachen Stichblättern (MHSZ 2644, 2645 und 2646). Weitere solche Sets gibt es in anderen Sammlungen,18 lassen sich aber bisher mit

keiner schriftlichen Quelle verbinden. Die Sets umfassen meistens sechs oder acht gleiche Nadeln, was darauf schliessen lässt, dass regelmässige mehrerer Stücke gleichzeitig verwendet wurden.

Bei unseren Etuis fallen ausserdem die unterschiedlichen Längenklassen auf. Im grossen Etui MHSZ 2288, das mindestens drei verschiedenen Sets in sich vereint, messen die Nadeln vom Stichblatt bis zu Spitze zwischen 2.8 und 4.5 cm Länge. Unsere drei anderen Sets sind in sich einheitlicher, vertreten aber jeweils unterschiedliche Grössenklassen. Beim kürzesten Set MHSZ 2644 schwankt die Länge des 8 Nadeln zwischen 2.5 und 3.5 cm. Beim mittleren Set MHSZ 2645 liegt die Nadellänge bei allen 6 Stück um 5 cm. Das längste Set besteht aus 4 Nadeln ohne Etui mit deutlich massiveren, 7.2-7.8 cm langen Schäften, also nahe an den frühen Berichten aus Frankreich.

Das nährt den Verdacht, dass die kurzen Nadeln mit weitem Stichblatt nach Jukes eine britische Besonderheit waren und blieben. Die einfachere Variante mit vierkantigen Griffen könnte sich in Frankreich entwickelt haben und für längere Zeit und evtl. auch weiter herum verbreitet gewesen sein. Sie waren meistens länger als jene nach Jukes und wurden oft in grösserer Anzahl verwendet.

18: z. B. Science Collection, London.

Abb. 4
Abb. 4: Spezielles Instrument aus Etui MHSZ 2288. Mutmasslicher «Nadelzieher».

© Institut für Evolutionäre Medizin

Ein Nadelzieher?

Zum Set MHSZ 2288 gehört auch ein Instrument mit langem Griff aus Perlmutt (Abb. 4). Es wurde ziemlich sicher für die fünf Nadeln mit Griff aus dem gleichen zweifarbigen Perlmutt geschaffen. Funktional möchten wir das Gerät als «Nadelzieher» interpretieren: Das flache Ende lässt sich – mit dem Schlitz den Nadelschaft umgreifend – unter das Stichblatt der eingesenkten Nadel schieben, um diese anzuheben bzw. zu ziehen. Uns ist allerdings noch kein vergleichbares Gerät untergekommen. Selbst bei Seerig 1838, der einige jüngere Varianten der europäischen Akupunktur berücksichtigt,19 wird kein entsprechendes Instrument erwähnt.

19: Seerig 1838, S. 1246-1248, Taf. CXXXIX, Nr. 15-30.

Blutspuren?

Unsere beiden Nadeln nach Jukes (Abb 5) zeigen am unteren Nadelschaft und um diesen herum auf dem blank polierten Stichblatt auffällige Rostspuren, wie sie flüssiges Blut auf poliertem Stahl hinterlässt, wenn es darauf trocknet und längere Zeit einwirken kann. Das würde belegen, dass die Nadeln bis zum Anschlag eingetrieben wurden, weshalb ein «Nadelzieher» tatsächlich hätte hilfreich sein können. Beides betont die weitgehende Beziehungslosigkeit zwischen der traditionellen asiatischen und der frühen europäischen «Akupunktur». Die einzige Übereinstimmung war deren Bezeichnung in Europa.

Abb. 5
Abb. 5. Frontansicht der beiden Akupunkturnadeln nach Jukes aus Etui MHSZ 2288. Die Rostspuren könnten auf eingerostetes Blut zurückgehen.

© Institut für Evolutionäre Medizin

Weiterführende Gedanken zum Etui MHSZ 2288

Wie bereits festgestellt enthält es Akupunkturadeln aus mindestens drei unterschiedlichen Sets. Zudem liegen zwei Nadeln mehr drin, als es Fächer im Etui hat und viele passen nicht richtig in die Fächer. Vermutlich wurden im Etui anfangs nur zwei Sets englischer Herkunft vereinigt, die beiden Nadeln nach Jukes und das Set mit Perlmuttgriffen, aber Verluste beim Gebrauch wurden wohl nach und nach mit anderen Nadeln ersetzt.

Damit fügt es sich in eine Gruppe von etwa zwei Dutzend Etuis in unserer Sammlung ein, die jeweils kein normales bzw. reguläres Arbeitssortiment bilden, sondern wie eine Zusammenstellung themenverwandter Geräte zu Schau- und Lehrzwecken wirken. Das didaktische Element wird bei diesen Etuis oft durch eine auffällige Beschriftung wie

«Apparatus Instrumentorum ad XYZ» oder ähnlich betont. Mit der Plakette «Acupunctur Apparat» (Abb. 6) passt sich MHSZ 2288 auch in diesem Punkt in diese Gruppe von Etuis ein.

Bei den meisten dieser Etuis datieren die Instrumente in die Jahrzehnte kurz vor und nach 1800. Deshalb vermuten wir, dass sie jenen Ärzten gehörten, die am von 1782 bis 1832 aktiven Medicinisch-chirurgischen Institut in Zürich, einem Vorläufer der 1833 gegründeten Medizinischen Fakultät, praktischen Unterricht erteilten. Es gab dort keinen schuleigenen Fundus an chirurgischen Geräten, auf den die Lehrer für die Kurse zurückgreifen konnten. Geeignetes Präsentationsmaterial mussten sie aus eigenen Mitteln bereitstellen. Diese didaktischen Schauetuis des frühen 19. Jahrhunderts bilden einen medizingeschichtlich höchst interessanten Bestand unserer Sammlung, aber dieses Fass machen wir besser ein anderes Mal auf …

Abb. 6
Abb. 6: Silberne Plakette auf dem Etui MHSZ 2288 mit der Beschriftung «Acupunctur Apparat».

© Institut für Evolutionäre Medizin

Literatur

Martin Trachsel