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Im Alter von fünf Jahren wurde bei mir Diabetes mellitus Typ 11 diagnostiziert. Die Diagnose war ein Schock für mich und meine Eltern. Mein Hausarzt schickte mich sofort ins Spital. Dort musste ich drei Wochen lang bleiben und mich an die neuen Lebensumstände gewöhnen. Es hatte sich einiges geändert in meinem Leben und diese Veränderungen bestimmten von nun an meinen Alltag.
Ich musste jeden Tag den Blutzucker messen, danach überlegen, was es zu Essen geben wird und dementsprechend die Menge Insulin spritzen. Beim Essen musste ich auf die Kohlenhydrate2 achten und mich an einen strikten Ernährungsplan halten. Ich musste also einiges neu erlernen. Dabei halfen mir neben den Ärzten, der Diabetes-Gesellschaft und den Eltern auch die «Diabetiker-Lager», welche ich jährlich besuchte. Diese Lager wurden von verschiedenen Diabetes-Gesellschaften organisiert und angeboten. In meinem Fall war es die Berner Diabetes-Gesellschaft. Noch heute werden Ferienlager angeboten, wie man auf der Webseite erfahren kann.
Ich verbrachte jeweils drei Wochen in einem Ferienlager mit anderen Diabetikern aus der Schweiz. Mit dabei waren auch Ärzte und ausgebildete Diabetologen. Es war im Grunde genommen ein «normales» Ferienlager, mit dem Unterschied, dass sich der Lageralltag dem Diabetikeralltag unterordnete.
Am Morgen standen alle Lagerteilnehmer auf, an der extra eingerichteten Blutzuckermess-Station wurde der Blutzucker gemessen und die Werte wurden von einem Diabetologen in ein Diabetiker-Tagebuch eingetragen. Anhand des Wertes wurde bestimmt, was wir nun beim gemeinsamen Morgenessen an Nahrungsmitteln zu uns nehmen konnten und wie hoch die Insulindosis sein musste. Jeder wollte natürlich besonders gute Blutzuckerwerte haben, damit man auch richtig zulangen konnte beim Morgenessen – das Blutzuckermessen entwickelte sich unter den Lagerteilnehmern zu einem «internen Wettkampf». Jeder wollte besser sein als der andere. Zum Mittagessen, zum Abendessen und vor dem Schlafengehen wiederholte sich die ganze Angelegenheit wieder. Es war eine schöne Zeit, in der ich sehr vieles lernte – unter anderem das selbständige Spritzen, den Einfluss des Insulins auf den Blutzuckerwert, die Wechselwirkung zwischen Insulin und Ernährung etc.
Ebenso war ich zum ersten Mal nicht alleine als Diabetiker, sondern gehörte einer Gruppe an. Dies stärkte mein Selbstbewusstsein.
1: Früher oft als «Jugenddiabetes» bezeichnet. Bei diesem Typ des Diabetes herrscht ein absoluter Mangel an Insulin vor, sprich die Betazellen der Bauchspeicheldrüse können das Hormon Insulin nicht mehr herstellen und somit ist der Diabetiker lebenslang auf eine Insulintherapie angewiesen.
2: Damals waren es Broteinheiten (BE), bzw. Brotwerte (BW). Es handelt sich hierbei um eine historische Berechnungseinheit für den Gehalt bestimmter Kohlenhydrate in Nahrungsmitteln. Bis 2010 wurde die Broteinheit in der deutschen Diätverordnung wie folgt definiert: Menge eines Nahrungsmittels, die 12 Gramm an verdaulichen und damit blutzuckerwirksamen Kohlenhydraten in unterschiedlicher Zucker- und Stärkeform enthält. In der Schweiz wurde ein Brotwert mit 10 Gramm Kohlenhydraten berechnet – eine recht komplizierte Angelegenheit, vor allem für einen Fünfjährigen.
Ein normaler Diabetiker-Alltag sah damals – zwischen meinem fünften und zwanzigsten Lebensjahr – in etwa so aus:
3: Dieser Ernährungs-Plan wurde von der schweizerischen Diabetes-Gesellschaft, bzw. dem regionalen Ableger der Dachorganisation abgegeben.
4: Auch Bolus-Insulin genannt. Deckt den von den Mahlzeiten abhängigen Insulinbedarf ab. Wird auch zur Korrektur von erhöhtem Blutzucker gespritzt.
5: Auch Basal-Insulin genannt. Deckt den von den Mahlzeiten unabhängigen Insulinbedarf ab.
6: Zum Beispiel Traubenzuckerbonbon (Dextro Energy), Zuckerwürfel, ein Fruchtsaft (2 dl) oder ein anderes zuckerhaltiges Getränk. Keine «Light»-Getränke.
Dieser oben geschilderte normale Alltag konnte meistens nicht strikte eingehalten werden, da ich ja nebenbei auch Freizeitaktivitäten ausführte. In meinem Fall war es «König Fussball». Vier- bis fünfmal pro Woche spielte ich Fussball, sei es mit Freunden auf den Schulhausplätzen oder im Fussballverein. Diese sportliche Aktivität hatte einen grossen Einfluss auf meinen Diabetes7, aber der Diabetes hatte auch einen Einfluss auf den Sport. War mein Blutzucker zu tief8, so fühlte ich mich schlapp, musste eine Pause machen und Kohlenhydrate zu mir nehmen – Banane, Traubenzucker sowie Orangensaft waren meine ständigen Begleiter. Sind die Blutzuckerwerte zu tief, muss man sich das in etwa so vorstellen: Es entwickelt sich ein Hungergefühl, man beginnt zu schwitzen, Sprach- und Sehstörungen sowie Konzentrationsschwäche und Koordinationsstörungen treten ein. Bei diesen Warnzeichen muss man sofort mit dem Fussballspielen aufhören, sich hinsetzen und Kohlenhydrate zu sich nehmen. Danach dauert es etwas, bis sich der Blutzuckerspiegel wieder normalisiert hat.
Wenn ich Fussball spielte, war es wichtig, dass ich die Insulindosis vorübergehend senkte. Zu Zeiten der Spritze und des Pens – zwischen meinem fünften und fünfundzwanzigsten Lebensjahr – war dies nicht so einfach, da man mit diesen Instrumenten nicht einfach so und jederzeit für zwei bis drei Stunden die Insulindosis anpassen konnte wie bei der heutigen Insulinpumpe. Bei der Spritze oder beim Pen musste man die Insulindosis vorausschauend und korrekt spritzen. Dies konnte man zum Beispiel vor dem Fussballtraining machen und präventiv etwas mehr Kohlenhydrate zu sich nehmen oder man spritzte erst nach dem Fussballtraining und nahm das Abendessen ein. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass es in der Theorie immer einfacher ist als in der Realität. Es kam einige Male vor, dass ich vor dem Training einen guten Blutzuckerwert hatte und dementsprechend die Insulindosis anpasste. Nach dem Training war dann aber plötzlich mein Blutzucker sehr hoch. Obwohl ich alles gemäss Theorie machte, verhielt es sich in der Realität anders.
7: Die Insulindosis und die Nahrung mussten so angepasst werden, dass es zu keiner Unterzuckerung kommen konnte.
8: Man spricht bei einem zu tiefen Blutzuckerspiegel von einer Unterzuckerung, bzw. Hypoglykämie. Unter Diabetikern spricht man meistens von einem «Hypo». «Gemäß der Amerikanischen Diabetes Gesellschaft liegt sie im Allgemeinen vor, wenn der Blutzuckerspiegel unter 70 mg/dl (3,9 mmol/l) sinkt. Häufig werden aber noch niedrigere Grenzwerte zur Definition verwendet. Zu einer Unterzuckerung gehört ohnehin mehr als nur ein bloßer Messwert.» (https://www.diabetes-ratgeber.net/Unterzucker).
© Institut für Evolutionäre Medizin
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Täglich dabei hatte ich meine Injektionsinstrumente, um das lebenswichtige Insulin zu mir zu nehmen. Zu Beginn – fünftes bis zehntes Lebensjahr – war die Einweg-Spritze (Abb. 1 und 2) mein stetiger Begleiter. Mit dieser Einweg-Spritze zog ich bei Bedarf die korrekte Menge Insulin aus dem Insulinfläschchen. Dieses Aufziehen des Insulins benötigte eine gewisse Zeit, da folgende Schritte ausgeführt werden mussten:
War dieser Prozess des Einfüllens beendet, so konnte man mit der eigentlichen Injektion beginnen. Aber auch dieser Prozess war nicht in wenigen Sekunden erledigt, da er aus den folgenden Arbeitsschritten bestand:
Wie man sieht, dauern die beschriebenen Abläufe ihre Zeit und es sind keine «Hauruck-Übungen» möglich – Diabetiker sein, heisst geduldig sein und abwarten können. Auch bei der Entwicklung der Injektionsinstrumente spielt die Zeit eine wichtige Rolle.
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Mit dem Aufkommen des Pens (Abb. 3) verkürzte sich die Zeit der Injektion für mich als Diabetiker – von fünf Minuten Zeitersparnis pro Injektion ist hier die Rede – das ist für Diabetiker ein wesentlicher Gewinn. Das mühsame Aufziehen des Insulins mittels einer Nadel entfällt dabei, da die Insulinampulle/Insulinpatrone im Pen integriert ist:
Ein weiterer Vorteil beim Pen ist die einfache und bequeme Bedienung. Mit wenigen Handgriffen ist der Pen betriebsbereit für die Injektion. Ebenfalls vorteilhaft ist, dass das gläserne Insulinfläschchen durch die integrierte Insulinampulle wegfällt.
© Institut für Evolutionäre Medizin
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Mit der Insulinpumpe, dem Insulinpod (Abb. 4 und 5) fing für mich ein neues Zeitalter an. Zum ersten Mal musste ich nicht mehr mehrmals pro Tag eine zeitaufwendige Injektion durchführen. Stattdessen wird die Insulinpumpe einmal alle paar Tage mit Insulin aufgefüllt und danach an einer geeigneten Körperstelle – in der Regel am linken oder rechten Oberarm – angeklebt. Mittels Knopfdruck am dazugehörigen mobilen Handgerät (Personal Diabetes Manager) wird die Kanüle unter die Haut eingeführt. Nun gibt die Insulinpumpe die programmierte Insulinmenge über drei Tage hinweg konstant ab. Einfach gesagt: Man setzt die Insulinpumpe und kann nun drei Tage warten, bis man die Insulinpumpe auswechseln und eine neue Insulinpumpe setzen muss. In der Zwischenzeit gibt es keine zeitraubenden Injektionen mehr.
Durch die Insulinpumpe erlebe ich nun seit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr dem Komfort einer kontinuierlichen Insulintherapie. Dabei werde ich rund um die Uhr mit einem Insulin-Grundbedarf versorgt. Wird zusätzliches Insulin benötigt, – zum Beispiel bei Mahlzeiten oder bei der Korrektur von zu hohem Blutzucker – so kann ich dieses jederzeit mittels Knopfdruck über das mobile Handgerät abgeben.
© Institut für Evolutionäre Medizin
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Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als ich mit der Spritze hantieren musste – vom fünften bis zum zehnten Lebensjahr. Die Spritze signalisierte mir, dass ich anders war. Meine Krankheit wurde durch die Spritze nach aussen sichtbar. Trotzdem war für mich von Anfang an klar, dass ich mich nicht verstecken wollte. Der Diabetes war Bestandteil meines Lebens und dazu gehörte auch die Spritze. Schnell war in meinem Freundes- und Bekanntenkreis klar, wie mein Diabetes-Alltag aussah. Dennoch war die Spritze negativ behaftet, das merkte ich auch oft beim Spritzen in der Öffentlichkeit – sei es im Zug oder sonst an einem Ort, an welchem fremde Augen auf mich gerichtet waren und mich musterten. Einige Male hörte ich die Leute flüstern «Schau mal, ein Junkie» Ich war dann manchmal so frei und sprach die Leute direkt an und erklärte ihnen, was ich da gerade machte.
Dieses negativ behaftete Spritzen verschwand mit dem Insulin-Pen, den ich zwischen dem zehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr benutzte. Der Pen mit seinen schrillen Farben (Abb. 6-8) wurde nicht als Injektionsinstrument wahrgenommen, sondern als «modisches Lifestyle-Accessoire».
Einfach zusammengefasst, beobachtete und erlebte ich die Entwicklung von der medizinischen und «krankheitsbehafteten» Spritze hin zum trendigen Lifestyle-Accessoire Insulin-Pen, bei welchem die Krankheit in den Hintergrund trat.
Noch abstruser wurde es mit der Insulinpumpe – sie benutze ich seit dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr. Das Injektionsinstrument wird von fremden Augen als interessantes Gadget angesehen. Insbesondere im Sommer ist der Insulinpod für fremde Augen sichtbar – meistens ist die Pumpe am rechten oder linken Oberarm angeklebt und kommt beim Tragen von T-Shirts zum Vorschein. Schon oft habe ich erlebt, dass mich Leute fragten, was ich denn da am Oberarm trage. Erkläre ich es ihnen, sind sie begeistert, wenn sie hören, um was es sich da handelt. Mit dem Insulinpod wird der Alltag für mich als Diabetiker angenehmer und meine Zeit flexibler gestaltbar. Auch die Vermischung von Mensch und Maschine nimmt zu. Meine Freunde nennen mich manchmal liebevoll «Cyborg» – ich nehme es mit Humor.
Cyborg, 33 Jahre